Die alte Lehrerbibliothek am Gymnasium Petrinum ist in erster Linie eine Schöpfung des 19. Jhs. Ihr Grundstein wurde von Dr. Wüllner gelegt, der von 1829 bis 1832 als erster Direktor des Gymnasiums amtierte. Mit Hilfe einer Stiftung des Herzogs von Arenberg in Höhe von 600 Rtl. erwarb er ca. 350 Bde. Daneben gab es ältere Bestände, die aber erst später mit der Bibliothek vereinigt worden sind: Aus der Klosterbibliothek der Franziskaner, die bis 1820 die Lateinschule in Recklinghausen betrieben, sind vor allem theologische Werke durch Kauf oder Schenkung ans Gymnasium gekommen. Eine genaue Identifikation ist heute nicht mehr möglich. Aus der " Vestischen Schulbibliothek", die 1798 im Zuge der Bemühungen um eine Schulreform im Vest Recklinghausen entstanden war, kamen 12 heute noch an entsprechenden Markierungen erkennbare Bücher in die Gymnasialbibliothek. Aus der Bibliothek des Progymnasiums (1822-1829), die vor allem durch Schenkungen des Königlichen Konsistoriums in Münster ausgestattet wurde, sind einige Dutzend Bde übernommen worden.
Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten des jungen Gymnasiums wurde die Bibliothek durch Schenkungen ausgebaut. Für das Jahr 1839 wird ein Bestand von ca. 1800 Titeln angegeben, für 1900 wird die Zahl von ca. 5800 Bdn genannt. In dem 1910 gedruckten Katalog sind etwa 7000 Bde verzeichnet.
Seit dem Umzug der Schule in den ersten Neubau 1911 befindet sich die Bibliothek an ihrem heutigen Standort. Damals wurde eine der aktuellen Nutzung zugedachte Unterrichts- und Handbibliothek abgetrennt und an anderem Ort aufgebaut. Diese Unterscheidung ist bis heute erhalten geblieben. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Schulgebäude und Bibliotheksraum durch Bomben beschädigt. In der Folgezeit wurde eine Anzahl von Büchern entwendet.
Bücher und Geschichte
Aber was sagen schon Zahlen und Fakten , wenn es um eine historische Bibliothek geht? Bücher sind die sinnlich wahrnehmbaren Gefäße von Wissen, haben eine eigene Ästhetik. Sie haben Einbände, deren Gestaltung vom Geist der Zeit erzählen.

Das sieht man zum Beispiel am Umschlag dieses Buches , das vom deutschen Freiheitskampf gegen die napoleonische Unterdrückung erzählt: das Heer des Kaisers in den Wolken und der hilflose deutsche Bauer auf seiner Scholle, das umreißt eine Konfrontation, die uns heute schon kaum noch verständlich erscheint, haben wir uns doch daran gewöhnt, Napoleons Herrschaft in Deutschland als Fortschritt zu feiern. Ein Blick auf diesen Umschlag macht unmittelbar anschaulich, auf welche Weise dort ein ganz anderes Geschichts-„Bild“ gestaltet wird.

Der Band „Volkstum und Heimat“, der Werke des westfälischen Schriftstellers Karl Wagenfeld enthält, macht schon außen klar, was für ein Völkchen darin besungen wird, kernfest und erdverbunden.
In der Buchgestaltung, die in früheren Epochen mit einer heute nur noch selten anzutreffenden Sorgfalt erfolgte, wird das Wissen inszeniert. Man ahnt oft, mit welchem Staunen die Leser sich in einer Zeit über die Bücher beugten, in der nicht per Mausklick oder Fernbedienung nahezu jede beliebige Information aus jedem Winkel der Erde verfügbar gemacht werden konnte.

Das kann man dem Titelbild dieser „Physica curiosa“ ablesen, einer Naturgeschichte menschlicher und tierischer Missbildungen.

Es finden sich hier aber auch die großen Werke der Welterkundung, deren Verfasser vor allem im 18.jahrhundert mit enzyklopädischer Besessenheit den ganzen Kosmos aufzeichnen wollten. Man spürt diesen Willen zum Beispiel im spätbarocken Titel dieses 10bändigen geographischen Werks eines französischen Wissenschaftlers, in dessen Weltbeschreibung aus dem Jahre 1745 auch Recklinghausen schon vorkommt.

Und man macht, beim Blättern, manche Entdeckung. So steckt in einem alten Pergamentband nicht bloß die schöne Ausgabe einer niederdeutschen Fassung des „Reinecke Fuchs“, sondern auch das hinten beigebundene „Traumbuch“ des Renaissance-Gelehrten Geronimo Cardano. Cardano war nicht bloß genialer Mathematiker sondern auch Heilkundler, der sich mit der Traumdeutung befasste.

Schließlich ein Beispiel dafür, dass hier Bücher ankamen, die auf den ersten Blick wenig mit einer Schulbibliothek zu tun haben, die aber von den vielfältigen Interessen der Nutzer zeugen. So sind hier die mächtigen Tagebuch-Bände von Emin-Pascha eingestellt. Der Mann hieß eigentlich ganz prosaisch Eduard Schnitzer, war ein im schlesischen Oppeln geborener Arzt, der 1876 im Sudan in ägyptische Dienste trat und 1878 dort Provinzgouverneur wurde. Während des Mahdi-Aufstands, einer frühen Explosion eines gewalttätigen islamischen Fundamentalismus, wurde er abgeschnitten, konnte seine Gegner am Ende jedoch besiegen. Er starb 1892, ermordet von arabischen Sklavenhändlern.
Bibliothek einer anderen Zeit
Vergleicht man diese Bibliothek mit dem, was heute „Lehrerbibliothek“ heißt , so fallen die Unterschiede drastisch ins Auge. Die Alte Lehrerbibliothek ist vor allem eine Bibliothek von Schulmännern, die sich nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, als Pädagogen verstanden , sondern als Wissenschaftler, als gelehrte Schulmänner. Die Bibliothek war ihnen der Ort, an dem sie sich à jour halten konnten mit dem Fortgang der Wissenschaften, und immer auch auf der Höhe des Zeitgeistes. Das sieht man vor allem an den Beständen aus dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts, aus dem viele Prachtbände zur Feier der Hohenzollern überliefert sind. Ob diese Bücher angeschafft wurden oder Schenkungen bzw. Spenden waren, ist in vielen Fällen nicht mehr nachzuvollziehen. Was an nationalsozialistischer Literatur in diese Bücherhalle kam, ist ebenfalls nicht mehr zu prüfen, da im Zuge der „Entnazifizierung“ nach 1945 die Bestände „gesäubert“ wurden. Nur einige wenige Titel zur „Rassenlehre“ sind übrig geblieben.
Es ist eine Bibliothek, die zu einer anderen Schule gehörte, als wir sie heute kennen. Den Unterschied markieren nicht nur die Bücher, sondern auch die Lehrer. Den Anspruch, immer auch Wissenschaftler zu sein, suchten sie durch regelmäßige fachwissenschaftliche Abhandlungen gerecht zu werden, die in den im Bibliotheksraum ebenfalls aufbewahrten „Jahresberichten“ der Schule publiziert wurden. Auf anderem Niveau und in anderer Form führt die Schule diese Tradition übrigens weiter, durch die jährliche Publikation der Zeitschrift „Petrinum“ .

Die andere Schule jener Zeiten wird auch anschaulich, wenn man sich Abiturientenbilder von damals ansieht. Zwei Aufnahmen vom Ende des 19.Jahrhunderts zeigen das beispielhaft.
Dass sich Schule und damit auch die Anforderungen an eine Lehrerbibliothek aber laufend ändern, das haben die Kollegen der alten Schule schon gewusst. Kurz vor dem ersten Weltkrieg, als das Petrinum diesen Bau, den damaligen Neubau , bezog, hat man einen historischen Teil der Lehrerbibliothek abgetrennt und hier aufgestellt, während eine aktuellere Handbibliothek an anderem Orte Aufbewahrung fand.
Heribert Seifert