Allgemeine Schulgeschichte


Lateinschule vor 1421

Beim großen Stadtbrand des Jahres 1500 wurde auch das Schulhaus bei St. Peter mit allen Urkunden und Unterlagen vernichtet, so dass gesicherte Erkenntnisse über die Anfänge der Recklinghäuser Lateinschule nicht vorliegen. Aus anderen Quellen ist bekannt, dass es eine Lateinschule schon vorher gab, die möglicherweise einer alten, nicht urkundlich belegbare Pfarrschule aus den Zeiten Karls des Großen folgte. Die erste Erwähnung der Lateinschule findet sich im Archiv der adeligen Familie Westerholt, die 1421 ein Jahresgedächtnis in der Pfarrkirche St. Petrus stiftete und dabei auch eine Summe für die Schule festlegte: "dey scholemester, dat hey mit synen scholaren to vigilia und in dey misse helpen to singen, 6 pfennige". In anderen Urkunden aus diesem Jahrhundert wird das Schulhaus genannt oder der Name des "rector scholarum in Reckelinchusen".

In der Folgezeit findet man dann eine Fülle von Hinweisen zumeist finanzieller Art, da die Stadtväter nur ungern einen Beitrag zu den Kosten leisten wollten; sie waren der Ansicht, das Schulgeld der Scholaren müsse reichen. Unwillig werden dann doch Beiträge zugeschossen, etwa für eingeworfene Scheiben oder für einen Riegel zu Sicherung des Karzers, und ebenso ungern hört man die Klagen der Lehrer über "das geringe salarium..., daß einem schier die lust zu doceren in pulvere scholastico benommen kunt werden".

Über Schülerzahlen erfahren wir nichts, können allenfalls Schlüsse daraus ziehen, dass es mehrere, meist drei Lehrkräfte gab. Die Hinweise auf den Lehrplan bleiben spärlich, so wenn jemand berichtet, er verdanke der Schule "rudimenta et fundamenta grammaticae et musicae". Vereinzelt gibt es Belege für Griechischunterricht, aber wohl ohne Dauerhaftigkeit, und hier zeigt sich wie in allen anderen Unterlagen, dass sich Krisenzeiten und gute Phasen abwechselten.

Das Franziskanergymnasium

Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Franziskaner, die im Dreißigjährigen Krieg aus Dorsten vertrieben und nach Recklinghausen gekommen waren, von der Bürgerschaft zur Gründung eines Klosters und zur Übernahme der Schulleitung gedrängt. 1642 war der Beginn der Klosterniederlassung; ab 1658 begann der Bau der Kirche. Der erste Gründungsversuch eines Franziskanergymnasiums 1643/45 scheiterte zunächst an finanziellen Schwierigkeiten, zumal die Stadt Dorsten zur Absicherung der dort 1642 erfolgten Gründung Einspruch beim Kurfürsten vom Köln gegen die Konkurrenz erhob. Erst am 23. August 1730 stimmte Clemens August von Bayern (1723-1761), Erzbischof und Kurfürst von Köln dem „privilegium“ zur Gründung eines fünfklassigen Franziskanergymnasiums zu. Den „patres magistri“ wurde gegen ein nicht sehr üppiges städtisches Gehalt der Schulbetrieb übertragen. Zusätzlich zahlte die Stadt Sachkosten für Papier, Licht und z.B. auch Pantoffeln und Socken. Die übrigen Mittel mussten die Ordensbrüder aus dem Schulgeld und aus Spendengeldern aufbringen. Im Jahr 1782 gab es unter den 2000 Einwohnern (incl. Hillen) 34 „studenten“, von denen nur 14 aus der Stadt selbst kamen. Neben Latein, Deutsch, Religion, Geschichte und Mathematik ging es auch um rhetorische Schulungen. Bereits ein Jahr nach der Schulgründung begannen die Schüler mit öffentlichen Theateraufführungen auf dem Marktplatz.

Der Franziskaner Roland Stein wurde 1785 vom Kurfürsten als erster Schulvisitator zur Reform des Bildungswesens eingesetzt; 1795 folgte ihm Anton Wiggermann, ein Schüler des Reformpädagogen Bernard Overberg. Zur Reformbewegung gehörten nicht nur methodische Schulungskurse für Lehrer, sondern auch Überlegungen zur Professionalisierung des Berufs. Nach der Säkularisation 1803 konnten sich anfangs keine dauerhaften Strukturen ausbilden. Die Franziskaner jedenfalls durften keinen Nachwuchs mehr ins Kloster aufnehmen, so dass 1825 mit P. Winand Beckmann der letzte Ordensbruder als Lehrer der Schule verließ.

„Höhere Stadtschule“ – Progymnasium – Königliches Gymnasium

Erst 1820 übernahm das Königreich Preußen die Aufsicht über die nunmehr „Höhere Stadtschule“. Der Gymnasialplan der unteren Klassen und das Fachlehrersystem wurden eingeführt. Man beginnt mit den unteren Klassen bis Quarta und erweitert sie 1822 zum Progymnasium mit dem Abschluss in der Secunda, die zum Besuch eines auswärtigen Gymnasiums berechtigte.

Im Oktober 1829 wurde mit einer Festmesse in St. Peter und dem feierlichem Umzug durch die Stadt und Direktor Wüllner als erster Schulleiter des „Königlichen Gymnasiums“ in sein Amt eingeführt. (Vgl. Festschrift 150 Jahre Gymnasium Petrinum Recklinghausen 1829-1979. Schulische Tradition seit über 550 Jahren, erstmals urkundlich 1421 erwähnt, hg. v. Karlfried Conrads, Recklinghausen 1979 sowie: 175 Jahre Gymnasium Petrinum Recklinghausen 1829-2004, hg. v. Theo Kemper/Ludger Linneborn/Georg Möllers/Petra Peveling/Heribert Seifert/Axel Vering, Edition Petrinum 2004) Die Schule zählte 95 Schüler, von denen sechs das erste Abitur ablegen konnten. Der Rat sah in dem Ausbau des Gymnasiums einen Ansatz zur wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt. Angesichts der geringen Zahl von Gymnasien in Westfalen, besaßen die Schulen eine überregionale Bedeutung. Viele auswärtige Schüler wohnten deshalb zur Miete in Privatwohnungen der Bürgerschaft. Bis 1860 betrug der Anteil dieser Gruppe zwischen 60% und 73%, lag aber auch noch 1910 bei gut einem Drittel der Schülerschaft. Eine Gedenkplakette für den späteren Historiker Johannes Janssen (Abiturientia 1849) erinnert noch heute am Fachwerkgebäude Holzmarkt 17 an diese Zeit. Bekanntheit erreichten u.a. die von auswärts gekommenen „Studenten“ Eduard Pape (1816-88) aus Brilon als Vorsitzender des Ausschusses für das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), Albert von Maybach (1822-1904) aus Werne als Reichseisenbahndirektor und Minister, Hermann Landois (1835-1905) als Gründer des Zoos von Münster und Heinrich Bone (1813-1893) als späterer Direktor des Petrinum und dann des Mainzer Gymnasiums. Bone war zudem Verfasser zahlreicher auflagenstarker Schulbücher zum Deutschunterricht und Herausgeber des „Cantate“, des verbreitetsten Kirchengesangbuchs Westdeutschlands. Seine Lieder sind heute noch im „Gotteslob“, dem gemeinsamen katholischen Gebet- und Liederbuches des gesamten deutschsprachigen Raums vertreten.

Die finanziellen Grundlagen der Schule waren günstig, da der Erzbischof und Kurfürst 1793 noch vor Ende des Kurfürstentums Köln einen Schulfonds mit erheblichen Einlagen aus geistlichen Stiftungen gegründet hatte und auch weitere Zuwendungen flossen, u.a. vom Herzog von Arenberg als neuem Landesherren, der auch das ihm zugefallene Klostergebäude zur Verfügung stellte. Diese bischöflichen und herzoglichen Stiftungen waren der Grund für eine ungewöhnliche Konstellation. Als städtische Schule stand das Gymnasium einerseits unter staatlicher Aufsicht, war andererseits aber auch einem eigenen Schulausschuss oder Kuratorium Rechenschaft schuldig, in dem Bürgervertreter und Kleriker saßen. Hier entwickelte sich ein interessantes Spannungsverhältnis zwischen den preußisch-protestan-tischen Zentralbehörden und einem städtischen Gremium, das sich den örtlichen, katholisch-bürgerlich geprägten Strukturen und Traditionen verpflichtet wusste und zeitweilig auch die Besetzung der Schulleiterstellen selbst entscheiden konnte.

Die Bedeutung des Gymnasiums für die Stadtgesellschaft spiegelt sich auch heute noch in Straßennamen wieder, die an das Wirken besonders prägnanter Lehrerpersönlichkeiten erin-nern (Caspers, Dorider, Hukestein, Nieberding, Pennings, Vockeradt, Wildermann). Dr. Bernhard Hölscher, Priester, Wissenschaftler und 1859-1884 Schulleiter, wurde sogar die Ehrenbürgerschaft verliehen.

Die Schulgebäude

Das 1797 neu errichtete Gebäude der Turmschule, benannt nach seiner Lage am Kirchturm von St. Peter im Zentrum der Altstadt, ist heute das älteste noch existierende Schulgebäude der Stadt. Hier waren die Elementarschule und im oberen Stockwerk das Franziskanergymnasium untergebracht. Der klassizistische Bau wurden aus den Mitteln des vom letzten Kurfürsten Maximilian Franz von Habsburg 1793 gegründeten Gymnasialfonds finanziert und beherbergt heute das bedeutende Ikonenmuseum.

Nachdem der Herzog von Arenberg 1825 das säkularisierte Klostergut an die Stadt übereignet hatte, wurden zunehmend auch Klassen im Franziskanerkloster an der Klosterstraße untergebracht. Mit der endgültigen Aufhebung des Kloster durch die preußische Regierung wurden die Gebäude 1835 abgerissen und auf ihrem Grundriss entstand direkt neben der Franziskanerkirche (nunmehr: Gymnasialkirche) der Neubau des Gymnasiums. Dieses Gebäude stand noch bis zum Bombenangriff von 1944 und beherbergte zuletzt das Vestische Museum, das der Stadtarchivar und Petriner Lehrer Dr. Heinrich Pennings aufgebaut hatte. In der wachsenden Industriestadt Recklinghausen hatte das Gymnasium 1911 an der Ecke Klosterstraße/Herzogswall einen repräsentativen Neubau im Stil der Neo-Renaissance erhalten, dessen 2. Bauabschnitt allerdings wegen des Weltkriegsbeginns, der anschließenden Inflation und Wirtschaftskrise nie vollendet wurde. (Zur 100-Jahr-Feier der Eröffnung: Georg Möllers, „Der schöne Torso“: Das neue Gymnasium 1911/1956, in: Petrinum. Das Schulmagazin 38-2006, S. 112-126) Erst 1955/56 wurde ein zweiter Baukomplex mit Sporthalle und Aula am Herzogswall angefügt, dem 1980 ein moderner Neubauteil mit NW-Räumen und einer großen Sporthalle folgte. 2011 wurde dieser Bereich um neue naturwissenschaftliche Räume aufgestockt. Das „Seminargebäude“, ein Anbau an der Gymnasialkirche, der nach dem Weltkrieg das erste Studienseminar für die Lehrerausbildung aufnahm, wurde ebenfalls 2011 zur Mensa umgebaut.

Das Wachstum der Industriestadt Recklinghausen verlangte auch den Ausbau und die Ausdifferenzierung der schulischen Infrastruktur. Im Bereich der höheren Schulen kam es zur Gründung des städtischen Lyzeums sowie der Realschule, dann Oberrealschule, aus der sich das Hittorf-Gymnasium entwickelte. 1929 feierte die Schule die 150-Jahr-Feier des Abiturs und gleichzeitig eine 500-Jahr-Feier in Anlehnung an die Tradition der Lateinschule des 15. Jahrhunderts. Nunmehr erhielt sie auch offiziell den Namen Gymnasium Petrinum, der schon in der Zeit der Franziskaner (vgl. Gymnasium Petrinum in Dorsten) und später üblich war; der älteste Siegelabdruck ist im Jahr 1841 nachweisbar. 1963 nahm das Gymnasium Petrinum als erstes Recklinghäuser Jungen-gymnasium vier Mädchen auf (damals mit Ausnahmegenehmigung), ehe 1974 die Koedukation offiziell eingeführt wurde. Die Sprachenfolge des humanistischen Gymnasiums (Latein/Griechisch) änderte sich ab 1969 mit der Einführung des romanischen Zweiges, so dass die Sprachwahl zwischen Griechisch und Französisch ermöglicht wurde. Ab 1980 ergänzen englischsprachige Eingangsklassen den Beginn mit Latein. Seit dem Jahr 2015 bietet die Schule mit dem Konzept der School of Talents eine neue Form der Erprobungsstufe an, in der nach den Prinzipien der Förderung und Forderung aus den vier Bereichen Klassische Sprachen, Kunst, Musik und Kultur, Naturwissenschaften sowie Sport und Gesundheit jedes Kind seinen eigenen Bildungsweg am Petrinum grundlegen kann. Diese vier inhaltlichen Säulen setzen sich als traditioneller und innovativer Kern petrinischer Bildung – und damit ganzheitlicher Bildung – über die Academy of Talents im Wahlpflichtbereich der Mittelstufe bis zum Kurswahlangebot der gymnasialen Oberstufe fort.

Das Gymnasium Petrinum ist eine moderne Schule, die sich ihrer besonderen Tradition in der Stadt bewusst ist und diese Bildungs- und Kulturgeschichte auch bewusst in die Stadtgesellschaft einbringt, wie zuletzt bei der 175-Jahr-Feier des Abiturs (Theo Kemper, Ludger Linneborn, Georg Möllers, Petra Peveling, Heribert Seifert, Axel Vering (Hrsg.): 175 Jahre Abitur am Gymnasium Petrinum Recklinghausen 1829–2004. Edition Petrinum, Recklinghausen 2004) 2004, der 350-Jahr-Feier der Gymnasialkirche 2008 oder der 100-Jahr-Feier des Gymnasialgebäudes am Herzogswall 2011.

In den 70er Jahren brachte sich das Petrinum aktiv in den Diskurs um Schulreformen ein. Eine bis heute zentrale Weichenstellung der Recklinghäuser Schullandschaft ist die Kooperation in der Oberstufe bei Einführung des Kurssystems. Die vier innerstädtischen Gymnasien (Freiherr-vom-Stein, Hittorf, Marie-Curie, Petrinum) kooperieren in sämtlichen Leistungskursen und dem Großteil der Grundkurse. Das Kursangebot, das der Schülerschaft in der Bildungsstadt Recklinghausen durch dieses Modell angeboten werden kann, ist in Nordrhein-Westfalen einzigartig.

@Georg Möllers, 2016