„Nie wieder ist jetzt“– Projektwoche zum Holocaustgedenktag 2024
Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit und der Welt erstmals die Ausmaße des Holocausts vor Augen geführt. Das Petrinum richtet im Jahr 2024 für die Stadt Recklinghausen am Freitag, 26. Janaur 2024 den zentralen Gedenktakt aus, in dessen Vorfeld eine schulinterne Projektwoche für die gesamte Schulgemeinschaft ganz dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Unsere Dokumentation der Petriner Projekttage vom 23.01.2024 bis zum 26.01.2024 auf den folgenden Unterseiten, die über das Menü bzw. die nachfolgenden Button zu erreichen sind, soll daher eine nachhaltige Stimme sein, die erinnert und mahnt. Sie soll ermutigen, Verantwortung zu übernehmen und sich dafür einzusetzen, dass so etwas nie wieder passiert. Denn nur wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, können wir eine bessere Zukunft gestalten.
Der nachfolgende Artikel, der im Original in enger Zusammenarbeit mit der jüdischen Kultursgemeinde Recklinghausen zur Veröffentlichung im Jüdischen Echo Westfalen (JEW) erarbeitet wurde, bietet einen kurzen Überblick über alle Veranstaltungen und Projekte rund um den Holocaustgedenktag 2024 am Gymnasium Petrinum.
Erinnerung lebendig gestalten, den Opfern eine Stimme geben, einander begegnen: Projektwoche am Gymnasium Petrinum anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (27.01.2024)
Mehr miteinander reden statt übereinander, einander bewusst begegnen, statt sich zu verschließen – diesen Impulsen gingen Schülergruppen verschiedener Projekte im Rahmen der Projekttage am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen nach. Dazu waren sie unter anderem am Dienstag, 23. Januar, und am Mittwoch, 24. Januar 2024, zu Gast in der Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde am Polizeipräsidium.
Die Schülerinnen und Schüler wurden dort von Kantor Isaac Tourgmann herzlich begrüßt und bekamen lebendige Einblicke in das jüdische Leben. Sie lernten bestimmte Speisegesetze, besondere Feiertage und vor allem die Tora kennen. „Es geht in der Synagoge nicht um Politik, wenn man sich hier trifft. Nein, es geht vielmehr darum, wie man friedlich miteinander lebt“, erläuterte Isaac Tourgmann den Fünft- bis Siebtklässlern, „und das ist doch etwas, was du und ich beide wollen: In Frieden zu leben.“
Andere schulische Projekte widmeten sich dem Gedenken an weitere Opfer des Nationalsozialismus, wie dem jüdischen Petriner Hugo Cohen (Abitur 1897), der sich laut §175 StGB durch seine Homosexualität strafbar gemacht habe, verfolgt und ermordet wurde. Zu seinem Schicksal und zu dem Homosexueller im Ruhrgebiet während der NS-Zeit referierten Dr. Frank Ahland und Manuel Izdepski in der Aula des Petrinum in einem öffentlichen Vortrag. Explizit stammte nämlich aus der Schülerschaft der Wunsch, auch weitere Opfergruppen in den Blick zu nehmen und sich über die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet zu informieren.
Gleichzeitig forcierten die Projekte für die Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen einen vielfältigen Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: In dem Projekt „Wo du gehst und stehst…“ entdeckten geraden die jüngsten Schülerinnen und Schüler die Menschen hinter den in Recklinghausen verlegten Stolpersteinen. Andere begaben sich auf die Spuren Anne Franks. Musikalisch thematisierte man „Lieder als Verführer“ und warf auch einen Blick auf die Musik der heutigen rechtsextremen Szene. Kunst und Literatur widmeten sich sogenannten „entarteten“ Werken und schufen eigene kleine Ausstellungen, welche die Abwertung durch die Nationalsozialisten nicht nur infrage, sondern in all ihrer verblendeten Ignoranz manifest bloßstellten. Philosophisch wurde der Würdebegriff als Schutzkonzept für alle Menschen betrachtet und nicht zuletzt ging es in einem Projekt um das Wesen einer Diktatur und den besonderen Wert des Rechtsstaates – gerade in der heutigen Zeit.
Eine der Projektgruppen befasste sich vertiefend mit den Schicksalen vier jüdischer Petriner: Günter Boldes (am Petrinum von April bis Dezember 1925), Oscar Cosmann und Jakob Faßbender (beide Abitur 1903) sowie Hans Aris (Abitur 1936). Zum Abschluss der Projekttage wurden Gedenktafeln für diese ehemaligen Schüler enthüllt, die Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung, erzwungener Flucht und Ermordung wurden. Künftig wird diese Erinnerungsstätte auf dem Schulgelände weiteren Opfern aus der Petriner Schulgemeinschaft ein Andenken sein.
Als besonders gewinnbringende und nachhaltige Eindrücke schilderten viele Schülerinnen und Schüler die Begegnungen mit Expertinnen und Experten, welche die Projektgruppen unterstützten, sowie Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens, die sich mit Schülerinnen und Schülern austauschten, um ihre mitunter bedrückenden Lebens- und Alltagserfahrungen mit ihnen zu teilen. Eine Schülerin aus der Erprobungsstufe bemerkte: „Es war total gut, mal mit einer Person jüdischen Glaubens in Ruhe zu sprechen. Ich habe so viel Neues erfahren und habe neue Ideen für meine Präsentation bekommen.“
In Auseinandersetzung mit der Entrechtung, Verfolgung und gewalttätigen Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus der Mitte der damaligen Gesellschaft waren für viele der jüngeren Schülerinnen und Schüler die Vorgänge der Ghettoisierung, durch welche die Nationalsozialisten in abgeriegelten Stadtvierteln bewusst die Verelendung der jüdischen Bevölkerung bis hin zum Tode unter qualvollen Bedingungen wie Hunger und Krankheiten forcierten, ungeheure Schilderungen. Weiterführend erkannten die Schülerinnen und Schüler, dass auch in ihrer Heimatstadt Recklinghausen, in direkter Nähe zu ihrer Schule, inmitten der Innenstadt, zwei der fünf sog. „Judenhäuser“ festgelegt und mehrere jüdische Familien auf engstem Raum dort eingesperrt wurden, ehe sie Ende 1942 in das KZ Riga deportiert und ermordet wurden.
Den Abschluss fanden die Projekttage am Freitag mit der Ausstellung der Projektergebnisse der Schülerinnen und Schüler sowie einem Gedenkakt in der Aula der Schule, zu dem Vertreterinnen und Vertreter der Recklinghäuser Bürgerschaft eingeladen waren. Bereits vorab trafen sich Vertreter der drei großen abrahamitischen Religion, Kantor Issac Tourgman, Hodscha Erdinc Ergün, Superintendentin Saskia Karpenstein und Probst Karl-Hermann Kemper mit Schülerinnen und Schüler in der Petriner Gymnasialkirche, um dort in einer multireligiösen Feier in Gebeten, Gesängen und meditativen Impulsen über ein friedvolles und tolerantes Zusammenleben aller Menschen nachzudenken und sich auf den weiteren Tag einzustimmen. Anschließend betonte Bürgermeister Tesche in der Schulaula in einer emotionalen Ansprache, wie wichtig es sei, dass aus der Erinnerung des vergangenen Leids eine Verantwortung für die Zukunft erwachse: „Ihr habt die Verantwortung dafür, dass das ‚Nie wieder‘ auch ein ‚Nie wieder‘ bleibt. Macht es besser, als Generationen vor euch.“ Isaac Tourgmann zeigte sich in seinem Grußwort „überwältigt“ von den Beiträgen und dem Engagement aller am Projekttag Beteiligten. Er sei froh, dass die jüdische Gemeinde in der Stadtgesellschaft so viel Rückhalt erfahre und man gemeinsam mit den Verantwortlichen in Politik, Bildung und Kultur einmütig gegen das Vergessen und für Toleranz eintrete. Die musikalische Begleitung des Gedenkakts durch Herrn Misha Nodelmann gab der Veranstaltung einen sehr bewegenden Rahmen.
„Man kennt Zahlen der Opfer, aber man sollte den Menschen dahinter kennenlernen, damit man sich wirklich erinnern kann“, resümierte eine Schülerin, die in der Projektgruppe für den „Koffermarsch“ Plakate mit der Aufschrift „#WeRemember“ gestaltete. Zu diesem Gang am Freitag, 26.01.2024 um 14:30 Uhr vom Recklinghäuser Rathaus zur jüdischen Synagoge luden die jüdische Gemeinde Recklinghausen, der evangelische Kirchenkreis, das katholische Kreisdekanat und die islamische Gemeinde Recklinghausen (VIKZ) alle Bürgerinnen und Bürger Recklinghausens ein, um an die 215 jüdischen Recklinghäuser, die 1942 nach Riga deportiert und von denen fast alle ermordet wurden, zu erinnern und eine sichtbare Haltung gegen Antisemitismus und jegliche Art von Menschenfeindlichkeit zu zeigen. Die sehr große Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem Koffermarsch setzte ein beeindruckendes Zeichen. Auch sehr viele Schülerinnen und Schüler schlossen sich dem Gang an, an dem über 600 Menschen mit Koffern, Plakaten und Kerzen teilnahmen. Gemeinsam zogen alle mitten durch das Palais Vest, den Recklinghäuser Einkaufstempel und die zentralen Straßen der Innenstadt – ein unübersehbares Zeichen der Solidarität mit den damaligen Opfern, das für alle Recklinghäuser sichtbar war: „Es ist wichtig, dass wir den Koffermarsch in der Öffentlichkeit machen. Alle sollen es mitbekommen, damit wir uns an das erinnern, was mit den Juden in Recklinghausen passiert ist, als sie nach Riga weggebracht wurden; und dass wir nicht einfach nur danebenstehen wie die Menschen damals“, sagte eine Schülerin aus der 6. Klasse.
Seinen Abschluss fanden der Marsch und der Gedenktag in der Recklinghäuser Synagoge, in der der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde, Dr. Marc Gutkin und Kantor Isaac Tourgmann alle Teilnehmenden des Erinnerungsmarsches zum multireligiösen Gebete willkommen hießen. Die Petriner Schülersprecher Esmanur Kanoglu und Linus Eufinger legten in ihrer Ansprache dabei einen Fokus auf die vergangenen Projekttage in der Schule: „Diese Tage haben uns allen vor Augen geführt, dass es auch für die Jüngsten in unserer Schule nicht zu früh sein kann, sich mit den Gräueln des Holocaust zu beschäftigen. Nur wer um diese Vergangenheit weiß, kann Verantwortung für eine bessere, friedliche Zukunft übernehmen: Vor dieser Verantwortung kann und darf sich niemand drücken!“ Zum Abschluss stimmten alle gemeinsam in das Lied ein, dessen Zeilen unser künftiges Handeln bestimmen mögen: „Hevenu Shalom Alechem – Wir wollen Frieden für alle.“