Recklinghausen 1948: Bilanz nach Zusammenbruch und Neubeginn – Vortrag in der Gymnasialkirche

02. Nov 2023 Zurück zu Aktuelles

Vor 75 Jahren, im Jahr 1948, galt es auch in Recklinghausen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus als Stadtgesellschaft einen Neubeginn zu wagen. Diesem Neubeginn spürten Georg Möllers und Jürgen Pohl in ihrem Vortrag am 25.10.2023 in der illuminierten Gymnasialkirche in Kooperation des Gymnasium Petrinum mit dem Verein für Orts- und Heimatkunde sowie der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit nach. Dabei gingen sie natürlich auf die Geschichte der Ruhrfestspiele in Recklinghausen ein. Während des kalten Winters 1946/47 standen die Hamburger Theater vor der Schließung, weil ihnen Kohlen für die Beheizung und den Betrieb der Bühnentechnik fehlten. Der Verwaltungsdirektor des Deutschen Schauspielhauses, Otto Burrmeister, der Betriebsratsvorsitzende der Hamburgischen Staatsoper, Karl Rosengart, und weitere Beteiligte fuhren daraufhin in zwei holzgasbetriebenen LKW ins Ruhrgebiet, um auf den Kohlezechen um Hilfe zu bitten. Von der Autobahn A2 sahen sie die Schlote der Kraftwerksanlagen der Zeche König Ludwig 4/5 in Recklinghausen-Suderwich und schilderten den dort Beschäftigten ihre Situation. Unter Umgehung der Kontrolle durch die Besatzungsmacht halfen die Bergarbeiter den Theaterleuten und luden die LKW mit Kohle voll. Diese illegale Aktion wurde mehrfach wiederholt, bis die beladenen LKW von der Militärpolizei entdeckt wurden. Zum Dank für die Kohlehilfen gastierten im Sommer 1947 Schauspieler der drei Hamburger Staatsbühnen unter dem Motto „Kunst für Kohle“ im Städtischen Saalbau Recklinghausen – der Beginn der bis heute jährlich stattfindenden Ruhrfestspiele.

Aber auch in politischer Hinsicht wurden in diesen ersten Nachkriegsjahren wichtige Weichen in Recklinghausen gestellt. Die Stadt macht sich mit ihren relativ geringen Kriegszerstörungen und dem intakten Saalbau schnell einen Namen als Tagungsstadt. So fanden die ersten Zonenparteitage der CDU in der britischen Besatzungszone unter der Leitung Konrad Adenauers in den Jahren 1946 und 1948 in Recklinghausen statt. Der damals Parteilose Ludwig Erhard erläuterte im Saalbau am 28. August 1948 als Gastredner des zweiten CDU-Parteitages seine Ideen für ein künftiges Wirtschaftssystem. Erstmals sprach er hier von der „sozial verpflichteten Marktwirtschaft“. Mit seiner Rede legte er den Grundstein dafür, dass die CDU zur Partei der Sozialen Marktwirtschaft wurde und ebnete dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahre, das untrennbar mit seinem Namen verbunden ist, den Weg.

Neben diesen großen kulturellen und politischen Weichenstellung im Recklinghausen der Nachkriegszeit thematisierten Georg Möllers und Jürgen Pohl auf Basis detaillierte Quellenarbeit ferner viele weitere Entwicklungen, Umbrüche und Neuanfänge, die es in der Stadtgesellschaft in dieser Epoche gab. So galt es beispielsweise eine große Zahl Vertriebener und Geflüchteter aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutsche Reiches zu integrieren sowie Wohnraum und Arbeitsplätze für diese zu schaffen. Von etwa 85.000 Einwohnern sprang die Bevölkerungszahl Recklinghausens bis 1949 auf knapp 105.00 Einwohner – Recklinghausen war plötzlich Großstadt.

Und auch für das Gymnasium Petrinum barg diese unmittelbare Nachkriegsepoche so manche Herausforderung: Bei einem Bombenangriff am 01.11.1944 wurde die Gymnasialkirche schwer beschädigt und das alte Gymnasium neben dem 1911 eröffneten Neubau, dem heutigen Altbau, zerstört. Zeitweise wurden die Petriner Schüler und Lehrer ausquartiert und teilten sich in den Nachkriegsjahren das Schulgebäude am Westerholter Weg mit dem Aufbaugymnasium, dem heutigen Freiherr-vom-Stein-Gymnasium. Dafür fand im Altbau des Petrinum von 1911 am Herzogswall zunächst die Höhere Mädchenschule, das heutige Marie-Curie-Gymnasium, eine Notunterkunft. Erst nach Sanierung der teilweise zerstörten Schulgebäude kehrte die Petriner Schulgemeinschaft an den Herzogswall zurück.

Die Vortragenden vermittelten durch diese und weitere lokalgeschichtliche Betrachtungen ein lebendiges Bild der mannigfachen Herausforderungen, denen sich die Recklinghäuser Stadtgesellschaft nach 1945 stellen musste. Voller Demut können wir heute, 75 Jahren später, auf diese Generation zurückblicken, die nach den dunklen Jahren des nationalsozialistischen Regimes auch in Recklinghausen einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Neuanfang gewagt und die Grundlagen für die folgenden Jahrzehnte des Wohlstandes und des Friedens gelegt hat.

Von: Michael Rembiak